Der Islam, eine lösungsorientierte und denkfreundliche Religion: ProMosaik im Gespräch mit Abu Bakr Rieger

Von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein wichtiges Interview mit Abu Bakr Rieger, dem Herausgeber der Islamischen Zeitung über wesentliche Themen rund um den Islam, das Muslim-Sein im Westen und die Herausforderungen der muslimischen Gemeinden. Der Islam ist eine „lösungsorientierte“ und „denkfreundliche“ Religion der Mitte. Diese ist die Botschaft, die wir als Muslime wahrnehmen und leben sollen. Das Schlüsselwort zum interreligiösen Dialog ist das Gespräch. Möchte mich herzlichst bei Herrn Rieger für seine Zeit bedanken.
 
 
  
Milena Rampoldi: Warum ist es als Muslim – vor allem als westlicher „Konvertit“ – so schwierig, sich politisch zu positionieren, ohne ungerechte und harte Kritik auf sich zu ziehen; vor allem wenn es um Israel, Weltwirtschaft, Terrorismus und Militarismus/Imperialismus geht?
Abu Bakr Rieger: Man muss heute natürlich feststellen, dass die Debatten rund um den Islam mit großer Hitze und Schärfe geführt werden. Tatsächlich sind wir Muslime an allen großen Fragen unserer irgendwie Zeit beteiligt. Zumeist wird in der westlichen Öffentlichkeit der Islam als Teil eines Problems, weniger als Teil einer Lösung, angesehen.
Darüber will man sich erst einmal gar nicht beklagen. Leider gibt es einen radikalen Extremismus von Muslimen, die mit ihren Verbrechen bedauerlicherweise Angst und Schrecken verbreitet haben. Nur langsam wird die Position der Mitte, der absoluten Mehrheit, wieder präsenter. Eine Mitte, die durch Rechtsschulen gebildet wurde, die Terrorismus und Selbstmordattentate immer abgelehnt haben. Jahrhundertelang hatten Muslime zudem kein Problem mit anderen Konfessionen – mit Juden und Christen –, oft im engsten Raum friedlich zusammenzuleben.
Ich hoffe also, dass wir europäische Muslime beitragen können, die islamische Position wieder stärker zu zeigen, die durchaus auch Ansätze zur Lösung ökonomischer und sozialer Probleme birgt. Der Islam ist weder eine Ideologie, noch definiert er sich über eine Feindschaft gegen andere.
 
MR: Was bedeutet für Sie persönlich der Islam als Religion und Gesellschaft?
ABR: Der Islam versteht sich nach der bekannten Erklärung unseres geliebten Propheten aus drei Dimensionen: Islam, Iman und Ihsan. Es sind also gleich drei Wissenschaften nötig – das islamische Recht, die Lehre der Glaubensinhalte und der Sufismus –, um das Phänomen zu fassen.
Der Islam ist ein Meer des Wissens. Und die muslimische Lebenspraxis basiert insofern auf lebenslangem Lernen. Der Islam lehrt einen Weg der Mitte, nicht einen der Extreme und einen Weg der Gemeinschaft mit anderen, nicht etwa der Isolation. Dabei sind es die Muslime selbst, die an verschiedenen Orten keine Uniformität, sondern unterschiedliche Ausprägungen geschaffen haben.
 
MR: Wie können wir „Konvertiten“ in Europa als Brücke zwischen der Umma und der westlichen Gesellschaft dienen?
ABR: Naturgemäß sind wir eng mit unserem Heimatland verbunden. Unsere Verwandtschaft und unser Freundeskreis bestehen nicht nur aus Muslimen. Zweifelsohne lernt man so, Brücken zu bauen. Man erkennt Ängste und lernt, Fragen zu beantworten. Als Reisende, die die muslimische Welt kennengelernt haben, können wir auch hier die Faszination des islamischen Lebens ganz gut vermitteln.
Man sieht aber auch Brücken, die beispielsweise eine Annäherung von der europäischen Philosophie zum Islam ermöglichen. Zudem verstehen wir den Einfluss von Technik und Politik auf das heutige Denken der Muslime. Nicht zuletzt sind wir als Deutsche selbstredend auch durch unsere jüngere Geschichte geprägt. Die Verheerungen, die die politischen Ideologien angerichtet haben, sind uns daher sehr gut bewusst. Naturgemäß sind muslimische Ideologen nicht unsere Freunde.
 
MR: Welche Hauptziele verfolgen Sie mit der „Islamischen Zeitung“?
ABR: Die „Islamische Zeitung“ will zeigen, warum der Islam nicht nur für uns, sondern für über eine Milliarde Menschen eine überzeugende Antwort auf die grundsätzlichen Fragen des Daseins geben kann. Wir versuchen, den Sinn und die Bedeutung unserer Lebenspraktiken zu erklären. Selbstredend greifen wir auch die aktuellen Fragen auf, die problematisch sind; zum Beispiel die Hochzeit des politischen Islam mit der Ideologie.
Wir sehen andererseits auch im islamischen Wirtschaftsrecht Lösungsansätze, die hochaktuell sind. Überhaupt versucht die „Islamische Zeitung“, der vollständigen Politisierung des Glaubens entgegenzutreten. Der Prophet hat keine Partei gegründet, wohl aber einen Marktplatz geschaffen. Die islamische Zivilgesellschaft bewegt sich im Kern um ökonomische Prinzipien, um Stiftungen sowie um Bildung und basiert auf der Solidarität von Männern und Frauen.
 
MR: Wie wichtig ist die Vernetzung unter muslimischen Organisationen und welche sind die Haupthindernisse?
ABR: Grundsätzlich sehr wichtig. Allerdings herrscht in diesem Bereich eine gewisse Stagnation. Die Verbandsstrukturen spiegeln noch immer die politischen Konflikte der 1970er Jahre. Ich halte auch die ethnischen Trennlinien für antiquiert. Wir müssen schnell neue, kreative Strukturen der Zusammenarbeit aufbauen und unsere gemeinsamen Interessen und Möglichkeiten ausloten.
Deutsche Muslime sind alle Muslime, die Deutsch sprechen. Wir Muslime in Deutschland werden nur dann als Bereicherung wahrgenommen werden, wenn wir unser Angebot an die Gesellschaft positiv definieren und anbieten. Ich sehe hier Bewegung.
Viele lokale Moscheegemeinden emanzipieren sich, engagieren sich in der Stadt und bauen auf basisdemokratische Entscheidungsprozesse, statt auf Zentralismus zu setzen. Signifikant ist auch die starke Rolle der muslimischen Frauen, ohne deren Engagement und Einfluss keine muslimische Gemeinschaft auf Dauer überleben kann.
 
MR: Welche Hauptziele verfolgen Sie mit Ihrem Blog?
ABR: In meinem Blog geht es mir um Querverbindungen; also zu zeigen mit welchen Fragen und mit welchen Denkern sich Muslime und Nichtmuslime – hoffentlich in gegenseitiger Bereicherung – beschäftigen sollten.
In der heutigen Zeit geht es in erster Linie um die Frage der Technik, der Ökonomie und, wie wir künftig überhaupt Freiheit verstehen. Ich möchte ein Gespräch anregen, das klarmacht, dass wir Muslime nicht auf einer fernen Insel leben, sondern mit allen anderen in einem Boot sitzen.
Ich versuche auch, Nichtmuslimen zu zeigen, dass der Islam weder rückwärtsgewandt, noch denkfeindlich ist. Die Menschen haben heute beim Thema Muslime viele Bilder im Kopf. Es gibt leider nur noch wenig echte, direkte Erfahrungen mit Andersdenkenden. Es gibt kaum noch Orte, in denen Menschen lebhaft und kontrovers, engagiert und fair über ihre Überzeugungen streiten. Ich finde diesen Rückzug in geistige Lager bedauerlich. Mein Blog versteht sich daher als ein Gesprächsangebot.

 

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