„Um Islamophobie zu bekämpfen, ist es wichtig, dass sich Muslime und Islamverbände nicht einigeln und zurückziehen“Ulla Jelpke, MdB, Die Linke im Gespräch

von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein wichtiges Interview mit der Bundestagsabgeordneten von Die Linke Ulla Jelpke zu verschiedenen Themen, im Besonderen über die Flüchtlingspolitik, den Militarismus und die Islamfeindlichkeit. Möchte mich nochmal herzlichst bei Frau Jelpke für ihre Zeit bedanken.
 
 
Milena Rampoldi: Was bedeutet für Sie sozio-politisches Engagement im weitesten Sinne?
 
Ulla Jelpke: Im weitesten Sinne bedeutet sozio-politisches Engagement für mich, um mit Karl Marx zu sprechen, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Es geht darum, für die rechtliche und soziale Gleichstellung aller Menschen zu kämpfen und alle Ausgegrenzten vom Rand der Gesellschaft in die Mitte zu holen. Das darf kein paternalistischer Ansatz von oben herab sein, sondern kann nur im gemeinsamen Kampf von unten gelingen. Ich versuche daher auch in meiner parlamentarischen Arbeit immer die Verbindung zu außerparlamentarischen Initiativen zu halten und diesen durch meine Anfragen eine Stimme im Parlament zu geben.
 

 

MR: Welche Strategien braucht die deutsche Flüchtlingspolitik dringend?
UJ: Wir müssen weg von einer Flüchtlings- und Asylpolitik, die in Schutzsuchenden eine Bedrohung sieht und primär auf Abschreckung und Abschottung ausgerichtet ist. Es ist fatal und läuft dem Grundgedanken des Asylrechts zuwider, wenn wir schutzbedürftige Flüchtlinge in gute und schlechte, in wirtschaftlich nützliche und Armutsflüchtlinge einteilen. „Grenzen auf für Menschen in Not“ sollte das Motto einer humanitären Flüchtlingspolitik sein. Und wir müssen den Menschen vor allem eine wirkliche Integration von Anfang an ermöglichen. Es ist nicht nur wirtschaftlich unsinnig, sondern auch im Sinne des Integrationsgedankens fatal und für die Betroffenen sehr belastend, wenn Flüchtlinge monatelang auf die Behandlung ihres Asylantrages warten müssen und in dieser Zeit Arbeitsverboten unterliegen, keine Sprachkurse besuchen können etc. Die Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich selbst beispielsweise in der Nähe von bereits hier lebenden Angehörigen oder im Sinne ihrer beruflichen Qualifikation den Ort ihres Asylverfahrens auszusuchen und auch privat etwa bei Freunden oder Verwandten oder jedenfalls in eigenen Wohnungen unterzukommen. Gleichzeitig muss die Bekämpfung von Fluchtursachen das A und O jeder zukunftsorientierten Asyl- und Flüchtlingspolitik sein. Das Ziel sollte ja sein, dass niemand mehr gezwungen ist, wegen Krieg, Not oder Verfolgung sein Land zu verlassen. Gerechte wirtschaftliche Beziehungen zu den Ländern des Südens statt eine erzwungene neoliberale Wirtschaftspolitik und ein Rüstungsexportstopp – insbesondere in den Nahen Osten – sind hier wichtige Forderungen.
 
MR: Wie kann man in Deutschland im negativen Sinne den Rechtsextremismus bekämpfen und gleichzeitig im positiven Sinne für wahre Kohäsion in der Gesellschaft sorgen?
UJ: Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlich sind dem Kapitalismus innewohnende Tendenzen. Auch Islamophobie und Antisemitismus gehören dazu. Um vom Kapitalismus, von neoliberaler Politik, vom Profitprinzip als Ursache sozialer Spannungen, von Ausbeutung und Armut und von Perspektivlosigkeit abzulenken, werden immer Sündenböcke gebraucht und geschaffen – und das sind oft die vermeintlich „Fremden“. Gegen gewalttätige Nazis und Naziterroristen muss mit aller Härte des Gesetzes vorgegangenen werden. Leider haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Sicherheitsbehörden oft auf dem rechten Auge blind sind und Nazigewalt nicht als solche verbuchen. Da werden Naziangriffe auf Linke oder Migranten gerne als unpolitische Taten betrunkener Jugendlicher verharmlost. Oder ich erinnere daran, wie die Mordserie der Naziterrorgruppe NSU jahrelang nicht als rechtsextreme Taten gegen Migranten erkannt wurde, sondern vielmehr versucht wurde, die Opfer zu kriminalisieren. Insbesondere der Inlandsgeheimdienst – der Verfassungsschutz – spielt eine unrühmliche Rolle, in dem er über seine V-Leuten in der Naziszene den Rechtsextremen Geld, auch Waffen und Schutz vor polizeilicher Verfolgung zukommen lässt – und das unter dem Vorwand, die Nazis so besser überwachen zu können. Das erste Verbotsverfahren gegen die NPD scheiterte im Jahr 2003 daran, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Durchsetzung der Nazipartei mit Verfassungsschutzspitzeln zu dem Ergebnis einer „fehlenden Staatsferne“ der NPD kam. Ich hoffe, dass derzeit laufende erneute Verbotsverfahren wird nicht wieder durch so etwas sabotiert. All das zeigt: auf den Staat und die Sicherheitsbehörden ist nur begrenzt Verlass, wenn es um den Kampf gegen Neonazis geht. Wichtig ist daher vor allem, dass wir breite antifaschistische Bündnisse – von der autonomen Antifa über Parteien bis hin zu Kirchen und Migrantenverbänden – bilden, um die Nazis dort zu stoppen, wo sie marschieren oder „Angstzonen“ in Stadtteilen und Kleinstädten errichten wollen. Um nachhaltig gegen Rechtsextremismus zu kämpfen, müssen wir zugleich denjenigen Menschen, die noch der Propaganda von Nazis und Rechtspopulisten erliegen, eine soziale und solidarische Alternative bieten. Kapitalismuskritik darf zwar keine pauschale Einstiegshürde für den Kampf gegen Nazis sein. Doch für Linke sollte sie ein zentrales Element im Antifaschismus sein, denn nur durch die Überwindung des Kapitalismus können wir den Faschismus dauerhaft den Nährboden entziehen.
 
MR: Wie kann man mit der steigenden Islamophobie in Deutschland am besten umgehen?
UJ: Was früher als Rassismus etwa gegen Türken daher kam, trägt jetzt seit etwa 15 Jahren das Gewandt der Islamophobie. Das ist zugleich der Versuch, soziale Probleme zu kulturalisieren wie etwa nach den hunderten Übergriffen und Raubdelikten von vorgeblich aus Nordafrika stammenden jungen Männern auf Frauen in der Silvesternacht in Köln. Wir haben es hier in erster Linie mit sexualisierter Männergewalt gegen Frauen und in zweiter Linie mit kriminellen Handlungen durch Menschen zu tun, die in ihren verarmten Herkunftsländern unter Umständen schon keinerlei Perspektive sahen und in Deutschland erneut durch Arbeitsverbote in die Illegalität gedrängt werden. Mit Islam hat das erstmal nichts zu tun, doch die von rechten Politikern dominierte öffentliche Debatte stellt es so da, als sei Gewalt gegen Frauen primär ein Problem des Islam und muslimischer Männer. Als linke, emanzipatorische Menschen müssen wir hier aufpassen, dass nicht der Kampf gegen Männergewalt und der Kampf gegen Rassismus und Islamophobie gegeneinander ausgespielt werden.
Um hier gegen Islamophobie und Hass gegen Muslime aktiv zu werden, muss zuerst einmal akzeptiert werden, dass es ein solches Problem in Deutschland überhaupt gibt. Obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Ablehnung des Islam und von Muslimen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen ist und es regelmäßig Schändungen und Brandanschläge auf Moscheen gibt, verharmlosen und vertuschen die Regierenden das bislang. Ein kleiner Erfolg unseres jahrelangen Drängens – gemeinsam mit Islamverbänden und Kriminologen – ist es daher, dass von nun an islam- und muslimfeindliche Straftaten gesondert erfasst werden sollen, so wie dies mit antisemitischen Straftaten übrigens schon lange geschieht. So lässt sich zumindest das Ausmaß gewaltsamer Islamophobie verdeutlichen. Um Islamophobie zu bekämpfen, ist es wichtig, dass sich Muslime und Islamverbände nicht einigeln und zurückziehen. Sie sollten vielmehr selbstbewusst als Teil der Zivilgesellschaft auftreten und dabei auch gemeinsam mit Menschen anderer oder  keiner Religion nicht nur gegen Islamhass, sondern sich generell gegen Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung wenden.
 
MR: Welche ist Ihre politische Utopie für einen friedlichen Nahen Osten?
UJ: Ein Naher Osten, in dem die Völker und Glaubensgemeinschaften sich nicht mehr auf das von den Großmächten und einheimischen Diktatoren bestens erprobte Teile-und-Herrsche-Spiel einlassen, sondern in gegenseitigem Respekt und auf gleicher Augenhöhe miteinander leben. Ein Naher Osten, in dem nicht mehr engstirnige nationalistisch oder religiös begründete Diktaturen das Bevölkerungsmosaik der Region unter jeweils eine einzige Identität zwingen wollen, sondern die ganze Vielfalt der Völker, Sprachgruppen und Glaubensgemeinschaften als Bereicherung angesehen wird. Ein Naher Osten, in dem nicht mehr ausländische Großmächte mit ihren imperialistischen Interessen die Geschicke der Staaten und Völker bestimmen, sondern die Menschen vor Ort sich demokratisch selbstverwalten und selber über ihre Ressourcen bestimmen.
 
MR: Wie zeigt man den Deutschen am besten auf, wie eng Militarismus, Imperialismus, Terrorismus und Flüchtlingskrise zusammenhängen?
UJ: Wir müssen zum Beispiel die Fluchtgründe aufzeigen. Gerade aus dem Nahen Osten, aus Syrien, dem Irak und Libyen, fliehen heute hunderttausende Menschen vor Krieg und Terror. Doch die Situation in diesen Staaten ist ja die Folge von sogenannten Regime-Changes, also den von außen durch Krieg und künstlich angeheizten Bürgerkrieg versuchten oder realisierten Sturz von Herrschern, die dem Westen vor allem aus wirtschaftlichen oder geopolitischen Gründen ein Dorn im Auge waren. Natürlich waren und sind Herrscher wie Saddam Hussein, Muammar al Gaddafi oder Bashar al Assad bei Weitem keine Engel. Aber eine Demokratisierung kann nicht von außen kommen, sondern muss von den Menschen in ihren jeweiligen Ländern selbst erkämpft und mitgetragen werden. Und den imperialistischen Mächten – EU und USA – geht es ja keineswegs um Menschenrechte, sonst würden sie nicht permanent das saudi-arabische Königshaus weiter aufrüsten. Der Krieg gegen den Irak, die Zerschlagung des irakischen Staatsapparates und die völlig Ausgrenzung der Sunniten bei gleichzeitiger Einsetzung einer sektiererischen schiitisch-dominierten Regierung durch die USA hat die Grundlage für das Entstehen des IS gelegt. Die Waffenlieferungen des Westens und der mit ihm verbündeten Golfstaaten sowie der Türkei an alle Kräfte, die gegen die syrische Regierung kämpfen, hat zur Aufrüstung des IS und von Al Qaida geführt. Der Sturz und die Ermordung Gaddafis nach dem westlichen Luftkrieg gegen Libyen hat das Land erst zum Stützpunkt für den IS und Al Qaida werden lassen. Eine Hauptunterstützerin des IS und anderer Dschihadistengruppen ist die türkische AKP-Regierung. Doch obwohl die Bundesregierung das sieht, hat sie einen flüchtlingspolitischen Deal mit Erdogan gemacht. Die Türkei soll Schutzsuchende daran hindern, nach Europa zu kommen, mit mehr als fragwürdigen Mitteln. Dafür bekommt sie drei Milliarden Euro und die EU und Bundesregierung schweigen zum Krieg Erdogans gegen die Kurden, obwohl durch ihn wieder neue Flüchtlinge geschaffen werden. Anstatt hier Klartext mit Erdogan zu reden, damit die türkische Unterstützung für den IS und andere Dschihadisten endlich beendet wird, schickt die Bundesregierung Tornados in die Türkei, um militärisch mitzumischen. Das wird die Situation nur verschlimmern.
Doch nicht nur die vom Westen angeheizten Kriege und Bürgerkriege sind ein Fluchtgrund. Auch sogenannte Armutsflüchtlinge fliehen vor einem Elend, dass oft die Folge einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ist, die den Ländern des Südens und Ostens aufgezwungen wurde. Dies gilt etwa für viele Flüchtlinge vom Balkan, aus dem Kosovo und Serbien. Das sind Länder, denen die EU in Folge des Jugoslawien-Krieges eine neoliberale Schocktherapie verordnet hat, so dass dort jetzt viele Menschen in bitterer Armut, am oder unter dem Existenzminium leben. Oder schauen wir nach Afrika. Dadurch, dass die EU-Fangflotten afrikanische Küstengewässer leerfischen und europäische oder US-amerikanische Konzerne mit subventionierten Lebensmitteln die dortigen Märkte zerstören, wird den Menschen schlicht die Existenzgrundlage entzogen. Dann bleibt ihnen nur die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer.
 
MR: Was wünschen Sie sich als Frau und als Politikerin heute für die Frauen in Syrien?
 
UJ: Zu allererst einmal Frieden. Und dann wünsche ich den Frauen, dass sie in einem zukünftigen friedlichen und hoffentlich demokratischen Syrien den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft einnehmen. Nämlich völlig gleichberechtigt und selbstbestimmt in allen Belangen – rechtlich, sozial und ökonomisch. Die selbstbewussten kurdischen, arabischen und assyrischen Frauen in den Selbstverwaltungskantonen in Rojava/Nordsyrien, die sich auf allen Ebenen gesellschaftlich, politisch und auch bei der bewaffneten Selbstverteidigung engagieren, könnten hier ein Vorbild für ganz Syrien sein.

 

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