ProMosaik e.V. im Gespräch mit Dr. Urs Gösken der Universität Bern: Friede und Dialog sind eine Frage des Willens
von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein sehr interessantes Interview mit Dr. Urs Gösken, Islamwissenschaftler an der Universität Bern. Ich habe mich mit ihm über Mystik, Frieden, Philosophie und die Aufgabe des Islamwissenschaftlers in der Gesellschaft unterhalten. Ich danke ihm herzlichst für seinen so wesentlichen Beitrag zur Diskussion über den Islam.
Milena Rampoldi: Herr Dr. Goesken, Sie beschäftigen sich als Islamwissenschaftler u.a. mit der islamischen Mystik. Ich finde die Mystik einen wichtigen Zugang zu allen Religionen und ein wichtiges Instrument für den Dialog mit den anderen Religionen. Wie sehen Sie das hinsichtlich des Islam? Wie wichtig ist die Mystik für den Islam und den Dialog und den Friede?
Urs Gösken: Mystik erscheint vielen Betrachtern in der Tat oft als ein Phänomen und ein Ausdruck einer nicht an bestimmte Dogmen gebundenen Spiritualität. So vertritt etwa nur das Christentum die Dreifaltigkeitslehre, nur dem Islam gilt Muhammad als das Siegel der Propheten, aber Mystik gibt es in beiden Religionen. Tatsächlich sah etwa der französische Philosoph und Islamwissenschaftler Henry Corbin (1903-1978) in der islamischen Mystik, aber auch in Mystik überhaupt, die Manifestation einer übergeschichtlichen Dimension der menschlichen Existenz. Von vielen religiös interessierten Denkern besonders in Iran wurde dieser Ansatz auch dankbar aufgegriffen und weiterentwickelt. Auch wenden sich viele Muslime, die sich nicht von einer obrigkeitlich verordneten Auffassung des Islam vereinnahmen lassen wollen, der Mystik zu. In Iran etwa werden Gräber von Mystikern, etwa dem Dichter Hâfez, von den Gläubigen freiwillig und in grosser Zahl besucht, während etwa das Mausoleum von Revolutionsführer Khomeini vorwiegend von Schulklassen auf der obligaten Klassenfahrt aufgesucht wird. Auch die Rolle von Heiligen und Mystikern in Indien und Pakistan als integrative Kraft für Hindus und Muslime gleichermassen könnte man hier nennen. Dennoch, so scheint es mir, sollte man Mystik nicht als eine Gegenkraft zur dogmatisch systematisierten Religionsgelehrsamkeit oder zum sogenannten “Gesetzesislam” verklären. Im Islam etwa hat sich die Mystik in ihren Hauptströmungen mit der orthodoxen Gelehrsamkeit verbunden – Paradebeispiel ist hier Ghazzali. Und viele Mystiker – nicht nur im Islam – haben sich keineswegs immer als Botschafter des Friedens hervorgetan. Aber das diskreditiert weder die Mystik als solche, und schon gar nicht “den” Islam: Es zeigt halt nur, dass “Mystik” kein magisches Bannwort ist, das den Menschen vom Kriegsmodus in den Friedensmodus umpolt, sondern dass Friede und Dialog eine Frage des Willens dazu sind.
MR: Nasr Hamid Abu Zayd gibt wichtige Impulse im Bereich der modernen Koranauslegung. Welche sind die wichtigsten Aspekte, die Sie unseren Leserinnen und Lesern zusammenfassend erklären können?
UG: So wie ich Abû Zaid verstehe, meint er, dass die Bedeutung eines Textes, so auch des Koran, nicht in diesem selbst objektiv vorliegt und sich beim Akt des Lesens im Bewusstsein bloss passiv abspiegelt. Vielmehr ist die Produktion von Bedeutung ein dialektischer Prozess im Sinne einer Wechselbeziehung zwischen Text und Leser. Abû Zaid macht für diesen Zugang zum Offenbarungstext die moderne philosophische Hermeneutik, besonders die hermeneutischen Ansätze von Hans-Georg Gadamer, fruchtbar.
MR: Die Philosophie ist ein sehr wichtiger Zugang zum Denken einer Kultur und Zivilisation. Wie können der Austausch zwischen Philosophen aus verschiedenen Kulturen und die Rezeption der westlichen Philosophie in den muslimischen Ländern zum interkulturellen Dialog beitragen?
UG: Genau wie für die Mystik, so gilt auch für die Philosophie, dass sie in unterschiedlichen Religionsgemeinschaften vorkommt und nach einem Ausdruck und Verständnis der Wahrheit sucht, dass nicht an eine bestimmte religiöse Lehre gebunden ist. Die Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt zeigt eine starke globale intellektuelle Vernetzung der islamischen Geistesgeschichte (natürlich gab es auch immer Gegenströmungen): Die islamischen Denker haben die griechische Philosophie weiterentwickelt und anverwandelt. So gesehen, ist gerade die Beschäftigung von Muslimen mit Philosophie ein Beispiel dafür, dass die islamische Kultur eine derjenigen Kulturen von Weltgeltung darstellt, die vom Hellenismus mitgeprägt sind. Das relativiert auch die Behauptung gewisser westlicher Kulturideologen, dass die Berufung auf “das” Griechentum ein Alleinstellungs- (und Überlegenheits-)Merkmal der westlichen Kultur sei. Auch haben ja europäische Denker im Mittelalter die Klassiker der griechischen Philosophie auf dem Wege ihrer muslimischen Schüler kennengelernt. Muslimische Denker des 19. Jahrhunderts wiederum verdanken der Averroes-Rezeption im Westen wichtige Impulse bei einem Neuzugang zu “ihrem” geistigen Erbe. Moderne europäische Philosophen sind seit dem 19. Jahrhundert in der islamischen Welt bekannt geworden und haben dort zu einem bis heute anhaltenden regen Austausch und lebhaften nationalen und internationalen Debatten geführt. Ein solcher Austausch vermag, abgesehen von allen sachlichen Einzelergebnissen, auch zum Nachdenken darüber anregen, was Rationalität bedeutet, und einem eurozentrischen Rationalitätsverständnis vorbeugen.
Doch ebenfalls wie bei der Mystik, so scheint mir, gilt: Ein Dialog ist auch auf diesem Gebiet eine Frage des Willens, genauso wie der Versuch, einen solchen friedlichen Gedankenaustausch zu einer Grundlage für friedlichen politischen Austausch zu machen. Dass Philosophie allein noch nicht ein besseres Menschentum hervorbringen muss, mag die Person von Martin Heidegger (1889-1976) eindrücklich belegen: Als Philosoph dürfte er einer der bahnbrechendsten Denker aller Zeiten sein, weltanschaulich und politisch war er ein Nazi und Antisemit, als Partner ein mieses Schwein, der seine jüdische Freundin, Hannah Arendt, links liegen liess, als dies für ihn wegen der Machtübernahme der Nazis bedenklich geworden wäre, und seine Stellung als Rektor der Uni Freiburg von Hitlers Gnaden hat er auch dazu benutzt, politische Abweichler und jüdische Kollegen und Studierende zu denunzieren…
MR: Die islamische Geistesgeschichte ist ein Beispiel einer fruchtbaren Interaktion zwischen dem muslimischen Denken und anderen Zivilisationen. Kann man dadurch heute aufzeigen, wie weltoffen und offen für andere Kulturen der Islam immer war?
UG: Hier möchte ich auf meine Antworten auf Fragen 1. und 3. verweisen und vor einem mechanistischen Kulturverständnis warnen: a) Interaktion ist nicht per se friedlich b) es gibt kein “immer”, und es gibt nicht “den” Islam – oder, um es mit einem Werbeslogan der Betonindustrie auszudrücken: “Es kommt darauf an, was man daraus macht.”
MR: Wie können Islamwissenschaftler heute dazu beitragen, sich dem islamfeindlichen Gedankengut in der Gesellschaft zu widersetzen? Wie wichtig sind Universitäten für die Verbreitung einer toleranten und respektvollen Weltanschauung?
UG: Das ist die schwierigste Frage. Islamwissenschaftler können zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen, allerdings halt nur, wenn an Versachlichung überhaupt Interesse besteht. Sie können als Wissenschaftler Positionen abseits von Polemik und Apologetik einnehmen – wieder: soweit und sofern es in der öffentlichen Debatte überhaupt um Ratio und Argumente geht. Wichtiger scheint mir aber etwas anderes, und dies aufzuzeigen, sollte und kann nicht nur Sache von Islamwissenschaftlern sein: Ein Minarettverbot – dies nur als ein Beispiel für diskriminierende Gesetzgebung – ist letztlich nicht ein Angriff auf den Islam oder die Muslime, sondern auf die Rechtsstaatlichkeit und das Prinzip der Nichtdiskriminierung selbst. Ich bin kein Muslim, aber dass ich durch das Minarettverbot nicht diskriminiert werde, beruht nicht auf dem Prinzip der Nichtdiskriminierung, sondern liegt nur daran, dass ich halt kein Muslim bin.
http://promosaik.blogspot.com.tr/2016/03/promosaik-ev-im-gesprach-mit-dr-urs.html